Aber eines lässt mein Träumen jeden Tag aufflackern: Da sitz ich in der S-Bahn, bemerk die andern Gesichter, auch nicht besser drauf, meine Mitfahrer – das ist beruhigend und doch ist dieser Spiegel aufdrängend unerträglich. Diese paar Minuten die ich da drinnen sitz, kommen mir manchmal so ewig vor – da hab ich keine Kontrolle, ich kann sie nicht anschieben diese S-bahn, sie stiehlt mir einfach regelmäßig, auch noch auf täglicher Basis Minuten meines Lebens. Ich bin ohnmächtig und ich hasse es. Und dann, dann wird meine Station aufgerufen, diese vertraute Stimme, mit dem vertrauten Wort. Ich steh vor der Tür und lass den Zug in die Station einfahren – und ich lese «Haltewunsch» mit einer Taste daneben. Ja, denk ich mir, den hab ich – einen Haltewunsch, wenn ich dann heimkomme, will ich, dass du mich festhältst. Ich steh da jeden Tag und wünsche. Ich frag mich, ob sich das viele denken und ob sich viele extra einsam fühlen, vor dieser Tür, die ja nicht schnell genug aufgehen kann. Ich sehe dem Aufkleber an – an den abgerissenen Ecken, dass ich nicht die erste wäre, die ihn da gerne entfernen wollen würde. Und jeden Tag frag ich mich, ob diese Menschen den Aufkleber haben wollen, weil sie auch selber einen Haltewunsch verspüren oder weil sie einfach ihren Stresswellen an so einem Aufkleber Abfluss gewähren wollen und es hätte es auch einfach irgendeine andere klebende Herausforderung sein können. Ich nehme mir vor den nächsten Menschen zu fragen, den ich bei so einem Versuch über die Schulter schaue – blöd nur, dass man solche Mikro-Verbrechen nur begeht, wenn man sich unbeobachtet fühlt. Ja, sicher, ich gebe es zu – ich habe mehr als nur einmal versucht, mir einen «Haltewunsch» zu holen – ja, da wünscht man sich, der Zug würde nur noch ein bisschen länger brauchen, damit mehr Zeit bliebe. Und faszinierender Weise denke ich auch nicht vorher dran, immer erst dann, wenn ich schon aussteigen will, tja. Viele abgebrochene Fingernägel und kleine blaue Bruchstücke eine Aufklebers. Selbsterklärend dabei natürlich: Würde zuhause jemand warten, der freiherzig große Portionen «Haltewunsch» bereit wäre zu erfüllen, wäre dieses regelmäßige Dilemma schon hinfällig, ich würde den Sticker vielleicht nicht mal mehr sehen. Aber nein und dann auch noch ist mein Wunschobjekt «Haltewunsch» auch noch meist porös, unansehnlich, weil an den losen Ecken allerlei Dreck sich anhaftend gesammelt hat – also total unhygienisch, will sich nicht vom Flecke rühren und bleibt mir verwehrt. Diese Dinger sind halt auch einfach aus einem Material gemacht, das es als Eigenschaft hat, nicht einfach einfach entfernt werden zu können, sondern sich so verhält, dass das Aufgeben der einzige Ausweg ist. Bei der ersten Berührung zersplittert dieses Ding in tausend Einzelstückchen. Diese Unbefriedigtheit, ich kann es auch so gar nicht gehen lassen, so werde ich ja täglich damit konfrontiert, damit und auch mit meinem aktuellen, eigentlichen Haltewunsch, der Schulter, die nur einmal ein paar Gramm von meinem Kopf auffangen möchte, was Lebendes, wo ich meine Schwerkraft durchschicke, bis zum Erdmittelpunkt. Das wär schön, auch einfach so per «Haltewunsch»-Taste im Zug zu bekommen. Ja, mit jedem Mal Drücken bestelle ich meine Haltewunsch-Erfüllungs-Person neu, das Universum kennt sich aus, hat sie vermutlich nur deshalb eingebaut. Bei jedem Aussteigen, nur am Wochenende ist Ruhe, dafür wird dann der Montag wieder härter.
Und dann – es musste so kommen: Unausweichlich hat mein Leben auf diesen Moment zugesteuert – ich stehe wieder da, der mich transportierende Zug bremst sich langsam ein, damit er mich dann aus tiefem Rachen ausspucken kann und sie stehen wieder vor mir, die tief in meine Seele schürfenden Buchstaben: «Haltewunsch» und, halt, nein, ja, wow, heute ist etwas anders: Die linke Kante des Stickers ist abgelöst, nach innen eingeschlagen und hat meine Finger magisch, magnetisch angezogen. Mit einer Bewegung ließ sich, der offenspürlich schon einmal abgelöste und somit perfekt für mich vorbereitete Aufkleber in einem Zug vom restlichen Zug abmontieren. Mein Nervensystem hat mich in diesen Momentbruchstücken in einen Trancezustand verfrachtet und die anderen, sich im Prozess des Ausstiegs befindenden Menschen, haben sich zuerst komplett aus meiner Wahrnehmung ausgeklammert und wie ich dann den direkt neben mir Wartenden mit zufriedenem, entgleist grinsensendem Blick entdeckt hab, blieb kein Platz für Schuld oder anderen unwirtlichen Emotionen und ich bin der festen Überzeugung, dass alle die ich da in Mittäterschaft gezogen habe, gleicher Meinung waren.
Da stand ich nun am Bahnsteig, mit meinem «Haltewunsch» in den Händen, es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass sich mein «Haltewunsch»-Wunsch realisiert hat.
Mein Weltbild hat sich verändert und ich hab es weiß auf blau. Jammern kann ich später.
Nach dem ersten innerlichen Japsen und Ringen nach klaren Gedanken, meine Frage natürlich: Wer tut so etwas?? Wer erlegt das Wild und lässt es dann ausgenommen, halb zubereitet liegen, sodass es sich der nächste nehmen kann? Der romantische Teil in mir sagt natürlich gleich: Es ist der, der mir meinen Haltewunsch erfüllen kann und der schickt mir diesen Etappensieg voraus. Vielen Dank, du Lieber! Leider ist es jetzt so, dass ich diesen «Haltewunsch» gut sichtbar in meiner Wohnung angebracht habe und so noch viel häufiger erinnert werde und im Zug wurde es ja umgehend ersetzt, also auch da sehe ich ihn. Aber, die Freude über den Sticker überwiegt natürlich und darüber, dass Wünsche in Erfüllung gehen. Und dass ich jetzt häufiger an meinen Haltewunsch erinnert werde, hat vielleicht auch den Vorteil, dass mit jedem Mal der Pfad auf dem der Wunsch dann schlussendlich angerollt kommt, tiefer geschürft wird und somit disziplinierter vorbereitet wird.
Eine Schneise also, wo der Wunsch dann ordentlich landen kann, ein Bahngleis, wo der Wunsch-Zug einfährt – und ich? Ich muss nur rechtzeitig die «Haltewunsch»-Taste drücken.